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Immunglobulin: Wunderwaffe oder Werbelüge?

Liebe Leute,

da meine Überlegungen zu der Frage, was Immunglobulin im Garnelenbecken zu suchen hat, bekanntermassen klar negativ war, habe ich mich in den letzten Tagen nun mit wissenschaftlicher Literatur beschäftigt, die etwas zur Beantwortung der Frage beitragen könnte.

Aber der Reihe nach. Wer sich unter Immunglobulin nicht wirklich etwas vorstellen kann, sollte auf der W-Infoseite mal nach Antikörper (= Immunglobulin) schauen. Die etwas knappe Erklärung ist, dass es sich um vom Immunsystem (genauer B-Zellen) gebildete Proteine handelt, die Antigene anhand ihrer Strukturen spezifisch erkennen und binden können. Dies gilt allerdings nur für Wirbeltiere, Garnelen als Wirbellose verfügen nicht über diese Möglichkeit einer adaptiven Immunantwort (siehe: Loker (2004): Invertebrate immune systems – not homogeneous, not simple, not well understood). Man hat berechnet, dass es bei Wirbeltieren > 100 Millionen verschiedene Antikörper geben kann. Warum nun diese riesengroße Zahl? Ganz einfach, für Antikörper gilt das Schlüssel-Schloß-Prinzip. Wenn er ganz exakt passt, kann er das Antigen binden, sonst (und da reichen schon kleinste Strukturänderungen) nicht! Der Wirbeltier-Organismus produziert also bei der Immunantwort eine riesige Anzahl Antikörper mit verschiedenen Bindungsepitopen, damit die Wahrscheinlichkeit groß genug wird, dass ein passender Antikörper für die Pathogene zur Verfügung steht. Und genau die Notwendigkeit dieser Vielfalt/Verschwendung ist der Hintergrund, warum das Ganze nicht funktionieren KANN!

Die Idee, Immunglobulin bei Garnelen zu verwenden, stammt wohl aus der Massentierhaltung. Hier werden jedes Jahr durch bakterielle und insbesondere virale Infektionen Milliarden-Schäden verursacht. Da bei Fisch(=Wirbeltier)-Aquakulturen über aktive Impfungen gute Erfolge erzielt wurden, versucht man nun, ähnliche Prinzipien in der Garnelen-Zucht anzuwenden. Da ungefähr zwei Dutzend Viren (z. B. White spot syndrome virus (WSSV) oder Taura-Virus) in marinen Aquakulturen die allermeisten Garnelensterben verursachen ist dies ein sinnvoller Ansatz, der theoretisch auch funktioniert. Den Tieren werden rekombinante Bestandteile viraler Hüllproteine appliziert und sie entwickeln eine gewisse Art Immunität. Da Garnelen keine Immunglobuline bilden können, sind Immunglobuline an dieser Form des Schutzes vor viralen Erkrankungen in keinster Weise beteiligt.

Was die Garnele nicht kann, kann der Mensch. Die Herstellung eines Antikörpers, der ein bestimmtes Antigen (ohne die vorherige exakte Identifikation geht es nicht) bindet, dauert für Leute vom Fach mit entsprechenden Hitech-Labors in der medizinischen Forschung ein bis einige Jahre. In der Medizin finden in den letzten Jahren zunehmend Antikörper Verwendung, wobei die Forschung und Entwicklung für Herstellung eines therapeutischen Antikörpers für EIN Problem ein Heer von Wissenschaftlern viele Jahre beschäftigt und zwei- bis dreistellige Millionenbeträge kosten. Dies verdeutlicht vielleicht, dass man nicht mal eben so ein Immunglobulin nehmen kann und es wird schon das richtige sein.

Zurück und zur passiven Immunisierung. Gegen WSSV wurden (für die Massentierhaltung) Immunglobuline entwickelt und sie zeigten Erfolg, wenn sie Garnelen gegeben wurden. Natürlich nur, wenn diese Garnelen WSSV hatten, gegen jede andere Erkrankung sind sie absolut nutzlos. Mit Abstand die beste Wirkung wurde erzielt, wenn die Immunglobuline gespritzt wurden. Ein gewisser Schutz war gegeben, wenn die Aufnahme über die Nahrung erfolgte. Das ist interessant, denn wie hier schon einmal jemand korrekt geschrieben hatte (was anscheinend von kaum jemand in seiner Bedeutung erkannt wurde), wird Nahrung nun mal verdaut, die Immunglobuline kommen also gar nicht intakt in die Garnele. Eine Erklärung wäre, dass die oral verabreichten Immunglobuline z. B. im Mund vor Erreichen des Verdauungstraktes die Viren binden, ähnlich wie das beim Säugling bei über die Muttermilch erhaltenem ImmunglobulinG A der Fall ist.

Ich kann jedem hierzu die Dissertation von Jeroen Witteveldt (2006): On the vaccination of shrimp against white spot syndrome virus nur wärmstens empfehlen. Man bekommt auch einen Eindruck von den methodischen und technischen Schwierigkeiten, mit denen derjenige konfrontiert wird, der die Reaktionen des Garnelen-Immunsystems beeinflussen will.

Es gibt natürlich noch viel mehr wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema, z. B. Lu (2009): Passive Immunization of Crayfish (Procambius clarkiaii) with Chicken Egg Yolk Immunoglobulin (IgY) Against White Spot Syndrome Virus (WSSV) oder Ha (2008): Vaccination of Shrimp (Penaeus chinensis) against White Spot Syndrome Virus (WSSV).

Wer sich schon mal asiatische Märkte angeschaut hat, weiß, dass sich dort die ausgefallensten Dinge am besten verkaufen (neongrün oder pink gefärbte Küken – der Renner). Das haben sich dann wohl auch die Hersteller von MST zunutze gemacht. Der Beipackzettel verspricht alles, was das Garnelenhalter-Herz begehrt und dazu gibt es sogar noch einen dies augenscheinlich bestätigenden Versuch.
Das ein Immunglobulin gegen alles hilft, geht (Schlüssel-Schloß-Prinzip!) und gibt es aber nicht (die Pharma-Industrie würde für diese Lizenz ernsthaft Milliarden zahlen, Garnelenprodukte müsste der Entwickler garantiert nicht mehr verkaufen). Die Versprechungen im Beipackzettel sind also fernab der (Immunglobulin-)Realität. Und nun zum Test. Wie der funktionieren soll, wurde mir trotz mehrfacher Anfrage zu dem zugrundeliegenden Mechanismus nie erklärt. Auf einer Seite im Netz fand ich aber die Beschreibung, dass Immunglobulin gegen WSSV in WSSV-infizierten Tieren benutzt wurde. Dass das funktioniert, wundert dann ja wohl eher niemanden. Tollwut-Immunglobulin hilft ja schließlich auch gegen Tollwut - nicht aber gegen z. B. eine Tetanus-Infektion, da beide Pathogene verschiedene Epitope haben. Solange man nicht ein breites Panel an Pathogenen untersucht, ist die Aussagekraft eines solchen Tests in Bezug auf die in der Produktbeschreibung postulierten Effekte des Immunglobulins also einfach nur null.

Da Immunglobulin und Stärkung des Immunsystems für den Laien natürlich gut klingt und sicherlich nicht verkaufshemmend wirkt, sprangen hiesige Hersteller auf den Zug auf. Es wurde auch hier ein Test durchgeführt, der augenscheinlich den immunstärkenden Effekt ergab und schon fand sich dies auf dem Etikett des Produkts wieder. Im Unterschied zu MST wurden keine standardisierten Bedingungen (bekannter Erreger, bekannte Epitope für das Immunglobulin usw.) benutzt, sondern einfach nur der Ansatz „kranke Garnele bekommt irgendwelches Immunglobulin“. Wiederholungen und objektive statistische Auswertungen fanden nicht statt. Dazu kann ich nur sagen, dass sich in der Wissenschaft schon sehr viele tolle Ergebnisse in Luft aufgelöst haben, als das Experiment wiederholt bzw. der Ergebnis-Erwartungs-Bias des Experimentators durch einen Mann-Whitney-U-Test wegfiel. Auch dieser Versuch belegt somit nach wissenschaftlichen Maßstäben in keinster Weise einen Effekt von Immunglobulin auf das Garnelenimmunsystem oder gar eine Wirksamkeit gegen alle möglichen Pathogene. Das Immunglobulin von MST wirkt zumindest mehr oder weniger gegen WSSV, auch wenn das noch viel genauer untersucht werden müsste.

Die Frage wäre aber auch hierbei, ob das WSSV für Garnelenhalter hierzulande überhaupt relevant ist. In den marinen Massentierhaltungen werden Wildfang-Larven benutzt und über das Wasser und Futter ist ein ständiger Kontakt zu Virenreservoirs gegeben. Die Bedingungen im abgeschlossenen Garnelenbecken sind völlig anders. Selbst wenn es WSSV ins heimische Becken schaffen sollte, wären die Tiere innerhalb weniger Tage tot und der Infektionsherd würde austrocknen. Man kann daher annehmen, dass Garnelensterben hierzulande durch eine Vielzahl normalerweise harmloser Mikroorganismen verursacht werden, die aber dann problematisch werden können, wenn das Immunsystem der Tiere bereits durch andere Faktoren (Wasserqualität, Stress, Spurenelementmangel o. ä.) angegriffen ist. Die Probleme verursachenden Erreger aus marinen Massentierhaltungen erreichen uns wohl selten bis nie.

Die Chancen, das Immunglobulin von irgendeinem (Wirbel-)Spendertier wirklich diese Mikroorganismen erkennen und binden kann, ist also rein wahrscheinlichkeitsmäßig in der Größenordnung von diesen 1:100 000 000. Und selbst die Behauptung eines unspezifisch immunverstärkenden Effekts müsste man erst durch Messung der Aktivierung der Zellen des Garnelenimmunsystems (Haematocyten) oder der Phenoloxidaseaktivität (v.d. Braak (2002): The roles of haemocytes and the lymphoid organ in the clearance of injected Vibrio bacteria in Penaeus monodon shrimp) verifizieren. Für einen kleinen Hersteller ist das natürlich sehr aufwändig. Aber wenn man mit seinen Produkten in der Garnelen-Immunsystem-Modulations-Liga mitspielen möchte, ist das einfach eine Frage der Ehrlichkeit dem Kunden gegenüber.

Da es anscheinend eine Zahl von Leuten gibt, die Ehrlichkeit dem Kunden gegenüber für entbehrlich halten, sollten diese über mal über Verantwortung dem Kunden gegenüber nachdenken. Solange der Hersteller nicht aufklärt, dass sein Immunglobulin in der Garnele gegen Pathogene wirkt, kann es genauso (un-)wahrscheinlich in der Garnele gegen die Zellen ihres Immunsystems wirken. Es gibt nämlich nicht nur neutralisierende Antikörper, sondern auch hemmende, aktivierende oder z. B. den Zelltod auslösende. Einfach nur Immunglobulin sagt rein gar nichts über die Wirkung aus und die Wahrscheinlichkeiten sind gleich hoch (oder besser und glücklicherweise gleich niedrig). Im humanen Bereich gibt es beispielsweise ein Immunglobulin, das sehr effektiv gegen Rheuma wirkt. Ungeschickterweise kommen damit latent vorhandene Mykobakterien-Infektionen zum Tragen und die damit behandelten Patienten bekommen Tuberkulose.
Der zweite Aspekt ist die Wirkung außerhalb der Garnele. Vielleicht (wenn auch nahezu unwahrscheinlich) bindet das Immunglobulin ja frei im Becken vorhandene Pathogene. Die Wahrscheinlichkeit ist aber mindestens genauso groß, dass positiv wirkende Mikroorganismen erkannt werden. Und wenn das biologische Gleichgewicht im Becken durcheinander kommt, kann das für dessen Bewohner u. U. recht heftige Auswirkungen haben.

Ob Mensch oder Garnele, das Immunsystem ist für das Überleben elementar. Funktioniert es nicht mehr oder ist es durch unsachgemäße Beeinflussungen gestört, kann dies innerhalb kürzester Zeit sehr, sehr endgültig sein. Natürlich hätte ich auch gern tolles Mittel, das gegen die Probleme meiner Tiere hilft – Immunglobulin ist es aber definitiv nicht, schließlich gelten auch für das Immunsystem gewisse Naturgesetzte. Wer bei diesen höchstkomplexen Mechanismen nicht wirklich genau weiß, was er tut, sollte es besser lassen.

Ich habe in der medizinischen Forschung schon hunderte Male die verschiedensten Immunglobuline für die vielfältigsten Zwecke (Durchflusszytometrie, MACS, ELISA, Imaging usw.) eingesetzt und auch die wissenschaftliche Literatur zu Garnelenimmunsystem und Immunglobulin/Impfung durchwühlt. Meine Meinung, dass Immunglobulin im Garnelenbecken nichts zu suchen hat, wurde dabei nur bestärkt.
Sobald genügend Käufer anfangen, kritisch Nachzudenken und Nachzufragen und Ehrlichkeit und Verantwortung dem Kunden gegenüber verlangen, werden die Hersteller auf dem Boden der Tatsachen bleiben und sich diese irreführenden „Immuneffekte“ auf den Etiketten der Produkte hoffentlich bald nicht mehr finden.

Wer Fragen hat, kann sie gerne stellen. Sowie ich Zeit habe, beantworte ich sie gerne.

Gruß

Ingo
 
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